Experten der Vernichtung (B00GNIM1WI) by Sara Berger
Autor:Sara Berger [Berger, Sara]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Hamburger Edition HIS
veröffentlicht: 2013-10-08T04:00:00+00:00
Kameradschaft und Gruppendruck
Bei der Diskussion um die Faktoren, die eine Teilnahme am Massenmord begünstigten, ist auch der hohe Gruppendruck zu nennen, dem die Männer ausgesetzt waren und auf den Browning in seiner Studie zu den »ganz normalen Männern« hingewiesen hat. Browning stellt den Gruppendruck neben Faktoren wie die ideologische Indoktrination der Männer, eigennützige Interessen und die Bereitschaft zur Ausführung von Befehlen. Er beschreibt die sozialen Kosten einer persönlichen Isolierung, die Verweigerer zu zahlen hatten, wenn sie die »Drecksarbeit« den Kameraden überließen und der kollektiven Pflicht nicht nachgingen.179 Das gruppenkonforme Verhalten ist insbesondere vor dem Hintergrund der Männerkameradschaft zu sehen, deren Bedeutung für den sozialen Zusammenhalt im Zweiten Weltkrieg der Historiker Thomas Kühne in seiner Studie zur »Kameradschaft« hervorgehoben hat.180
Die während der »Euthanasie« kasernierten T4-Reinhardt-Männer kannten sich zum Teil bereits seit vielen Jahren. Einige hatten schon vor der »Euthanasie« zusammengearbeitet, etwa in den SS-Totenkopfverbänden oder in einigen Heil- und Pflegeanstalten. Manchmal kamen sie sogar aus gleichen Orten. Aufgrund zahlreicher Rotationen zwischen den T4-Einrichtungen sowie gemeinsamer Aktivitäten, wie Handballspiele, gab es auch vielfältige persönliche Kontakte zwischen den untereinander vernetzten Anstalten.181 Diese Kontakte während der »Euthanasie« förderten nicht nur die Entstehung von Ehen und Liebschaften, sondern auch Männerfreundschaften und Kameradschaften. Erich Bauers Darstellung der T4-Reinhardt-Männer als ein »verschworener Haufen«182 verweist auf diesen Gruppenzusammenhalt. Die Loyalität der Männer und ihre kameradschaftlichen Ideale samt bedingungsloser gegenseitiger Treue überstanden sogar den Krieg. So hielten sie sich etwa in den NS-Prozessen sehr zurück, sich zu kritisch zum Verhalten ihrer Mittäter zu äußern, und bezeichneten selbst Gewalttäter unter diesen als anständig.183
Die Kameradschaft wurde täglich beim abendlichen geselligen Zusammensein, das in den Lagern die Hauptfreizeitgestaltung darstellte, inszeniert. Anfangs wurden alkoholische Getränke sogar von der Hauptwirtschaftsabteilung der T4 in die Lager gebracht, später besorgten sich die T4-Reinhardt-Männer große Mengen an Wodka und Bier vor Ort.184 Die Besäufnisse gehörten, wie Kühne ausführt, zum Set an Alltagsritualen, die Kameradschaft erzeugten, da sie Gegensätze verschwinden ließen. Bei diversen Ausschweifungen infolge der Trinkgelage wurden überdies militärisches Regelwerk und »gute Sitten« des zivilen Lebens außer Kraft gesetzt, was die verschworene Gemeinschaft erneut bestätigte.185
Die T4-Reinhardt-Männer tranken Bier, Wein und Eierlikör bei gemeinsamen, von den Musikern der Lager musikalisch untermalten Festen. Dabei spielten sie Karten, musizierten und sangen, wie sie es bereits während der »Euthanasie« und in den NS-Organisationen praktiziert hatten. Wurde es ihnen in den Lagern zu langweilig, fuhren sie mit Panjewagen oder Autos in die Gaststätten der Umgebung, wo auch Angehörige anderer Einheiten verkehrten. Die Männer aus Belzec gingen beispielsweise nach Tomaszów, die Männer aus Treblinka in ein Soldatenheim in Kosów. Die Männer in Sobibor frequentierten Gastwirtschaften in Chełm, machten Ausflüge zu einem benachbarten Fischgut und hielten Trinkgelage in der Stationsschenke in Sobibór ab, wo sie die Dorfmusikanten musizieren ließen. Dabei kam es oft zu Handgemengen, bei denen sie polnische Dorfbewohner schlugen und das Lokal demolierten. Die Männer in Treblinka feierten Trinkgelage gemeinsam mit Angehörigen anderer deutscher Einheiten, darunter Einheiten aus Kosów, Angehörigen des Reservelazaretts in Ostrów, des Arbeitslagers Treblinka und des Zolls.186 Fotos, die die T4-Reinhardt-Männer bei den gemeinschaftlichen Gelagen von sich machten, zeugen von der Bedeutung, die diese für das Gruppenverständnis der Männer hatten.
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